Sonntag, 9. November 2014

Predigt am 9. November 2014 (Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres)

Von den Zeiten und Stunden ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: „Es ist Friede, es hat keine Gefahr“ –, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum ermahnt euch untereinander, und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.
1. Thessalonicher 5, 1-11


9. November. Eine schlaflose Nacht. SA-Leute und NSDAP-Anhänger zogen zu den Synagogen und jüdischen Geschäften, schlugen Scheiben ein, plünderten die Läden, zündeten die Gotteshäuser an.
Eine schlaflose Nacht für die, denen die Geschäfte gehörten, für die, die sich in den Synagogen zu versammeln pflegten, oder vielleicht auch nur noch ganz selten dahingingen. Sie standen dabei, Angst und Entsetzen in ihren Gesichtern: Was sie hatten und was sie waren, ging vor ihren Augen in Flammen auf. Was sollte das noch werden?
Eine schlaflose Nacht für die Nachbarn, die den Lärm hörten, die Flammen sahen, und die grölende Menge. Einige liefen runter auf die Straße, machten mit. Endlich konnten sie es dem jüdischen Pack zeigen. Andere kriegten es mit der Angst zu tun: Angst um ihre Nachbarn und Freunde, Angst um ihr Deutschland: Was sollte das noch werden? Und viele, vielleicht die meisten, fühlten sich einfach nur gestört von dem Lärm da draußen. Sie machten die Fensterläden zu und versuchten weiter zu schlafen.
Eine schlaflose Nacht für den Polizeioberleutnant Wilhelm Krützfeld, den Leiter des Polizeireviers am Hackeschen Markt, Berlin. An der großen Synagoge in der Oranienburger Straße hatten sich SA-Männer versammelt und schon Feuer gelegt. Mit ein paar Männern aus seinem Revier war er schnell zur Stelle  und trat den SA-Leuten entgegen. Die vorgehaltene Pistole in der einen Hand, in der anderen eine Bescheinigung, dass das Gebäude unter Denkmalschutz stehe. Einer seiner Leute hatte inzwischen schon die Feuerwehr gerufen. So blieb an dieser Stelle der Schaden gering.
Wilhelm Krützfeld konnte den Naziterror nicht aufhalten, natürlich nicht. Aber er hatte gezeigt, dass man ihm entgegentreten konnte. Dass man den Mächten der Finsternis nicht einfach wehrlos ausgeliefert war. Er wurde weder verhaftet noch entlassen.
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Der Apostel Paulus schreibt: Ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
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9. November. Eine schlaflose Nacht. In den Abendstunden meldeten Rundfunk und Fernsehen, die DDR würde sämtliche Reisebeschränkungen nach Westdeutschland und Westberlin aufheben. Die Mauer sei damit offen. Und die Menschen in Berlin wollten herausbekommen, ob das stimmt, gingen oder fuhren zu den Grenzübergängen und trafen – auf geschlossene Tore. Bis dann zunächst doch einzelne durchgelassen wurden und dann irgendwann die Tore ganz aufgingen und die Menschen aus Ost- nach Westberlin strömten. Über die Grenze, die über 28 Jahre lang für sie hermetisch dicht gewesen war, wo über 100 Menschen beim Versuch, in den Westen zu gelangen, ums Leben gekommen waren, die meisten erschossen. Zu Fuß, mit Fahrrädern und mit Autos strömten sie in dieser Nacht in den anderen Teil der Stadt, der für die allermeisten immer in Sichtweite nahe gewesen war und doch unerreichbar fern. Und jetzt waren sie da. Menschen lagen sich in den Armen, weinten, tanzten, feierten. Die ganze Nacht.
Andere hatten diese Nacht verschlafen und rieben sich am Morgen verwundert die Augen, als sie das Radio anmachten oder das Fernsehen, oder Nachbarn, Kollegen und Freunde trafen. Ich gehöre auch zu denen: Ich hatte am Abend wohl die Nachrichten von der Schabowski-Pressekonferenz gehört. Aber da hieß es, dass DDR-Bürger jetzt Visa beantragen und direkt in den Westen ausreisen konnten. Danach hätte man zum Volkspolizeikreisamt gehen sollen und hätte irgendwann ein Reisevisum bekommen. Schön. Das war ein Fortschritt. – Aber dass in dieser Nacht schon 20.000 Ostberliner in Westberlin gewesen und am Morgen erschöpft aber glücklich nach Hause zurückgekehrt waren, davon hatte ich keine Ahnung. Diese schlaflose Nacht habe ich verschlafen.
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So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die schlafen, schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken.
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So war es damals: Die einen haben in dieser Nacht geschlafen, die anderen waren betrunken. Weil sie die ganze Nacht an der Mauer und auf dem Kudamm gefeiert haben. Besoffen vor Glück. Es war ja nicht nur diese Nacht. Es waren Tage und Wochen wie im Rausch. Als sich mit einem Mal alles veränderte, was jahrzehntelang feststand.
Und so ähnlich, nur mit umgekehrten Vorzeichen war es auch 51 Jahre früher gewesen: Die einen fühlten sich allenfalls in ihrem Schlaf gestört, als die Scheiben splitterten und die SA-Horden grölten. Fühlten sich vielleicht auch schon lange genervt von der großspurigen Propaganda und der politischen Gleichschaltung. Aber am liebsten schauten sie weg, machten die Fensterläden zu und schliefen weiter – den Schlaf der Selbstgerechten. Und die anderen waren berauscht von der Gewalt, von dem Gefühl der Macht: Endlich konnten sie es denen zeigen – denen, die sie für alles Unheil der Welt verantwortlich machten.
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Wenn die einen schlafen und die andern betrunken sind, dann weiß keiner, was wirklich los ist. Es fehlt der klare, wache Blick.
1989 haben im Rausch der Veränderung viele geglaubt, nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung wäre alles einfach gut. Und andere haben jahrzehntelang darüber geklagt, dass sich an ihrem Leben, so wie sie es sich eingerichtet hatten, plötzlich etwas änderte.
Wer schläft, verschläft die Veränderungen, die guten und die schlimmen. Und er wacht auf und findet sich nicht mehr zurecht.
So ist die Geschichte vom 9. November 1989 und dem was davor und danach war verfilmt worden: Eine verschläft – bewusstlos im Krankenbett – die Wende, die Revolution. Und um ihr schwaches Herz zu schonen, soll ihr die alte Wirklichkeit vorgespielt werden, was zu ziemlich absurden Situationen führt. So viel hat sich innerhalb weniger Wochen verändert. Goodbye Lenin heißt der Film.
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Die den 9. November 1938 verschlafen haben, sind oft erst Jahre später aufgewacht. Vielleicht in den schlaflosen Nächten, als die Bomben fielen. Vielleicht auch erst im Mai 1945, als der Krieg vorbei war. Erwachen wie aus einem Alptraum. Und wie lange hat es gedauert, bis sie verstanden hatten, was geschehen war, was sie getan hatten im Rausch der Nazi-Nacht, oder was an ihnen vorbeigegangen war, weil sie verbissen die Augen geschlossen hatten.
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So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
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Eine Meldung vom 4. November 2014:
Jugendliche haben einen US-amerikanischen Touristen im Kölner Hauptbahnhof ausgeraubt und als "Jüdischen Bastard" beschimpft. Der 37-Jährige habe Samstagabend die Jugendlichen nach dem Weg zu seinem Gleis gefragt, teilte die Kölner Polizei am Dienstag mit. Die Angesprochenen hätten den Mann direkt angegriffen. "Sie stießen ihn zu Boden und durchsuchten seine Kleidung", führte die Polizei aus. Dabei hätten die Jugendlichen den Davidstern an seiner Kette entdeckt und ihn beschimpft. Die Täter flohen laut Polizei mit dem Portemonnaie und den Reiseunterlagen des Touristen. Die Flüchtigen hätten rasierte Köpfe und schwarz-weiß-rote T-Shirts, Jeans sowie Sweatshirts getragen.
In diesem Jahr sind außergewöhnlich viele Juden Opfer von antisemitischen Überfällen geworden.
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So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
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Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt Zeiten und Stunden, die kommen über uns wie ein Dieb in der Nacht. Böse Tage.
Es gibt Zeiten und Stunden, die überfallen uns wie die Wehen eine schwangere Frau. Gute Tage.
Es gibt Zeiten und Stunden, nach denen nichts ist,  wie es vorher war.
Und es gibt Zeiten, Wochen und Monate, in denen sich Veränderungen ankündigen. So wie in den Wochen einer Schwangerschaft.
Lasst uns wachen und nüchtern sein, dass wir bereit sind für die guten Tage und für die bösen Tage. Dass wir erkennen, was geschieht, und verstehen, was es bedeutet. Und dass uns klar ist: Es kommen Tage, nach denen alles anders sein wird als noch am Tag zuvor.
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Wir, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.
Glaube, Hoffnung, Liebe.
Glaube: Das ist Gottvertrauen von Tag zu Tag.
Hoffnung: Das ist die Gewissheit: Was auch geschehen mag – am Ende wird alles gut.
Liebe: Das ist die herzliche Verbundenheit in guten und in bösen Tagen.
Glaube, Hoffnung, Liebe diese drei. Sie wappnen uns für alles, was kommen mag – für gute und für böse Tage.
Und für den Tag, an dem wir IHM gegenüberstehen werden, – für den Tag des Herrn.

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