Sonntag, 14. September 2014

Predigt am 14. September 2014 (13. Sonntag nach Trinitatis)

Apostelgeschichte 6, 1-7

Wir werden immer größer,
jeden Tag ein Stück,
wir werden immer größer,
das ist ein Glück!
Große bleiben gleich groß
oder schrumpeln ein.
Wir werden immer größer,
ganz von allein.
Ein Kinderlied vom Größerwerden, vom Wachsen:
Wachsen macht Spaß, größer werden ist ein Glück!
Kinder erleben es oft so:
Ich werde größer.
Ich werde selbstständiger.
Ich kann immer mehr.
Wachsen ist cool.
*
Manchmal tut Wachsen aber auch weh.
A., 14 Jahre alt, tun immer wieder die Knie weh:
Wachstumsschmerzen. Sagt er.
L., 16, genau dasselbe.
Bis vor wenigen Wochen wusste ich noch gar nicht, dass es so was wirklich gibt:
Wachstumsschmerzen.
Da geht offenbar etwas sehr schnell im Körper.
So schnell, dass nicht mehr alles mitkommt.
Da reibt und knirscht was.
Vielleicht muss sich auch die Körperchemie umstellen und kann es nicht so schnell.
Es entstehen Spannungen und Ungleichgewichte, und das verursacht Schmerzen.
Gott sei Dank, ist das nichts Ernstes!
Gott sei Dank, geht das vorbei!
Wir werden immer größer.
Manchmal tut das weh.
Aber meistens ist es ein Glück.
*
Hört Worte aus der Apostelgeschichte im 6. Kapitel:
In jenen Tagen, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Klagen unter den griechisch sprechenden Juden gegen die hebräisch sprechenden: bei der täglichen Versorgung würden ihre Witwen übersehen. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: „Es ist nicht recht, dass wir uns um den Tischdienst kümmern und dabei das Wort Gottes vernachlässigen…“

Wachstumsschmerzen in der jungen christlichen Gemeinde in Jerusalem.
Da sangen sie eben noch miteinander: Wir werden immer größer.
Und waren ein Herz und eine Seele,
und teilten miteinander, was sie hatten,
und keiner hatte Mangel (Apg 4,32).
Aber auf einmal tut es weh.
Es reib und knirscht:
Spannungen und Ungleichgewichte im wachsenden Leib Christi.
Wir kommen zu kurz.
Unsere Leute, unsere Witwen, die Ärmsten und Schwächsten, die werden übersehen.
Das ist ungerecht.
Das ist unchristlich.
Ja, von Ausländerfeindlichkeit und Arroganz der Alteingesessenen ist die Rede.
Der griechische Teil der Gemeinde rebelliert.
Und die Gemeindeleitung?
Fühlt sich überfordert:
Wir können uns nicht noch um die Sozialarbeit kümmern, sagen die Apostel.
Wir sind für die geistlichen Dinge zuständig.
Die einen sagen: Wir werden übersehen.
Die anderen sagen: Wir haben die Übersicht verloren.
*
Ich beneide die Apostel nicht um diese Probleme.
Aber dann denke ich: Ich sollte sie wohl beneiden.
Nach ihren Problemen sollte ich mich sehnen.
Denn es sind Wachstumsprobleme.
Sie zeigen an, dass es voran geht.
Was gestern noch funktioniert hat, funktioniert heute nicht mehr.
Nicht, weil es schlecht ist, sondern weil es nicht mehr gut genug ist.
Nicht gut genug für das, was in der Zwischenzeit herangewachsen ist.
Und weiter wachsen will. Ja, sollte ich mir das wirklich wünschen: Eine Gemeinde, die klagt und murrt? – Wenn das Klagen Zeichen von Wachstum ist, dann wohl schon.
*
Wachsen, das bedeutet nicht nur größer werden – quantitatives Wachstum.
Wachsen heißt vor allem auch reifer werden – qualitatives Wachstum.
Die Wachstumsschmerzen von Jugendlichen, nicht nur die körperlichen, sondern auch all die anderen Spannungen, Ungleichgewichte und Konflikte zwischen Zwölf und Zwanzig, haben vor allem damit zu tun, dass sie zu Erwachsenen reifen.
*
Die junge christliche Gemeinde ist an ihren Konflikten, Ungleichgewichten und Konflikten gereift. Sie ist nicht beim Klagen stehen geblieben, damals.

Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: „Es ist nicht recht, dass wir uns um den Tischdienst kümmern und dabei das Wort Gottes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um in eurer Mitte nach sieben Männern , die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir für diesen Dienst beauftragen wollen. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.“ Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut.

Wenn die einen übersehen werden und die anderen die Übersicht verloren haben, dann ist es Zeit für eine neue Sicht.
Die Apostel sagen: Seht euch um!
Ihr vielen seid umsichtiger als wir wenigen!
Seht euch um nach Leuten mit Umsicht und Übersicht, mit heiligem Geist und mit Weisheit.
Wir erleben die Geburtsstunde der Demokratie in der Kirche.
Nicht das Apostel- oder Bischofskollegium entscheidet, sondern die Gemeindeversammlung.
Gerade auch in Personalfragen.
Wir erleben die Differenzierung von Diensten und Verantwortlichkeiten in der Gemeinde:
der Dienst des Wortes und der Dienst der tätigen Liebe,
die geistliche Verantwortung und die sozialdiakonische Verantwortung.
Und beides heißt: Diakonia. Dienst.
Beides hat mit Glaube und Liebe zu tun.
Der Dienst am Glauben soll in Liebe geschehen.
Der Dienst der Liebe soll im Glauben geschehen.
Und alles soll im heiligen Geist und mit Weisheit geschehen.
*
Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut. Und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, einen Proselyten aus Antiochia. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie.

Gemeindewahl.
Und weitere Konflikte sind vorgezeichnet.
Denn die Wahl ist eine schallende Ohrfeige für die Gemeindeleitung, die Apostel:
Ausnahmslos alle, die da gewählt werden, gehören dem griechischen Gemeindeteil an; denen also, die sich beklagt hatten.
Nun stehen sie sich gegenüber: hebräische Apostel, griechische Diakone.
Kann das gut gehen?
Die Apostel akzeptieren die Wahl und tun, was ihres Amtes ist:
Führen die Gewählten mit Gebet und Handauflegung in ihren Dienst ein.
Und akzeptieren es, dass nun auch andere was zu sagen haben.
Können es vielleicht sogar als Gewinn ansehen, dass andere eine andere Sicht einbringen.
Und sind dankbar, dass ihnen Verantwortung abgenommen ist.
Dem Wachsen der Gemeinde tut es gut:
Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem.

Wir werden immer größer, können sie wieder singen.
Größer an Zahlen.
Und reifer im Geist.
Die Schmerzen sind überwunden – vorerst,
und sie wachsen weiter.
Wachsen gemeinsam.
Wachsen zusammen.
*
Nicht alle Schmerzen sind Wachstumsschmerzen.
Viel häufiger sind Schmerzen, die dem Verschleiß, dem Älterwerden, dem Zusammenschrumpfen geschuldet sind.
Und wenn wir gerade keine Schmerzen spüren, dann kann das heißen, entweder dass wir erwachsen und gesund sind – oder aber schon tot.
*

Wir werden immer größer.
Wachsen, größer werden ist ein Glück.
Ich glaube, dass wir, so lange wir leben, wachsen sollen: reifer werden.
Auch und gerade in Schmerzen und Konflikten.
Als Kirche und Gemeinde.
Als Menschen und Christen.

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