Sonntag, 18. August 2013

Predigt am 18. August 2013 (12. Sonntag nach Trinitatis)

Jesus und seine Jünger kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: „Siehst du etwas?“ Und er sah auf und sprach: „Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.“ Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte. Und er schickte ihn heim und sprach: „Geh nicht hinein in das Dorf!“
Markus 8, 22-26


… I once was lost, but now I’m found,
was blind, but now I see.
Wieder fällt mir gleich eine Liedzeile ein: Ich war einst verloren, aber jetzt bin ich gefunden, war blind, aber jetzt sehe ich. – Amazing Grace – Erstaunliche Gnade!
Auch diese kleine Geschichte, liebe Schwestern und Brüder, von der Heilung eines Blinden ist eine Geschichte von der erstaunlichen Gnade.
Für mich eine Geschichte, die mir besonders nahe geht, mich berührt. Und die mir doch auch ein bisschen fern und fremd ist.
Nahe ist mir diese Geschichte, weil das Schicksal der Blindheit für mich, wahrscheinlich für viele von uns, nicht fern und fremd ist. Wir kennen Menschen, die blind sind oder deren Sehvermögen eingeschränkt oder bedroht ist.
Ich denke an eine alte Tante von mir, die ich neulich in Deutschland getroffen habe und die durch ihre zunehmende Erblindung immer mehr eingeschränkt ist. „Nein, ich fahre nicht mehr weg“, sagt sie, „ich kann ja nicht mal mehr die Speisekarte lesen.“ Ihr Mann, der ihr hätte helfen können, ist schon vor ein paar Jahren gestorben. Ihre Freundinnen und Nachbarinnen aus dem Betreuten Wohnen werden auch nicht jünger. Bleiben Verwandte, die mal was mit ihr unternehmen.
Ich denke an ihre jüngere Schwester, meine Mutter, die schon seit ihrer Jugend auf einem Auge blind ist. Was, wenn ihr anderes Auge auch schwach wird? Wo sie doch das Sehen, das genaue Hinsehen zu ihrem Hobby gemacht hat in den Jahren ihres Ruhestands: Sie malt. Wie wäre das, wenn sie das Malen aufgeben müsste?
Wenn das Augenlicht schwindet, wird unsere Welt kleiner und enger. Wir können immer weniger tun. Wir bekommen immer weniger mit. Wir sind auf unsere anderen Sinne angewiesen. Radiohören statt Fernsehen. Stimmen erkennen statt Gesichter. Tastend und suchend den Weg finden, statt forschen Schrittes vorangehen. – Erblinden, wenn man einmal gesehen hat, das ist ein Stück Abschiednehmen von der Welt.
Ich denke an Andreas, der vor einem Jahr mit hier auf der Insel war und der im so genannten besten Alter sein Augenlicht verloren hat. Er hat sich möglichst wenig einschränken lassen, hat auch bewusst diese Reise gemacht, wo ein anderer sagen würde: „Ich sehe doch sowieso nichts.“ – Er hat gesehen: Mit den Ohren hat er den Wind gehört, der in den Palmen anders klingt als in den Linden seiner Heimat. Er hat die Brandung des Ozeans gehört, die anders klingt als die Wellen der Ostsee. Er hat die Beschreibungen und Erzählungen seiner Begleiterin und seiner Gastgeber gehört, die ihm eine Vorstellung vermittelt haben von dem, was er nicht sehen konnte. Mit seinen Händen hat er getastet: Wie ist die Struktur der Wände und der Schnitzornamente der Türen an kanarischen Häusern? Welche Form hat eine Skulptur, die da steht? Mit seinem Körper hat er das Wasser gespürt und auch die Gewalt der Wellen, wenn ihn jemand im Wasser begleitet und gehalten hat. Und er hat sogar mit seinen Augen gesehen: Als am Abend der Vollmond am Himmel stand, da hat er mit unserer Hilfe diese helle Lichtquelle am Himmel gefunden und gesehen. Und vielleicht, sicher hatte er das klare Bild des Mondes innerlich vor Augen: rund und schön. – Vielleicht ist so eine Reise nach Teneriffa für Andreas auch ein bisschen Abschiednehmen. Vielleicht wird es bald nicht mehr möglich sein so. – Aber vielleicht war es für ihn auch so was wie Amazing Grace – erstaunliche Gnade. – Ein Blinder, der neu und anders sehen lernt. Weil er es will; weil er Menschen hat, die ihm dabei helfen; und weil er Gottvertrauen hat.
Und da bin ich dann auch bei der Geschichte von der Blindenheilung Jesu. Dieser Blinde hat, was Andreas auch hat: Menschen, die ihm helfen, neu sehen zu lernen. Er ist nicht der einsame blinde Bettler, sondern der, der andere an seiner Seite hat, die ihm helfen und die ihn jetzt zu Jesus hinbringen. Er hat ein Zuhause, wohin er wieder zurückkehren kann. Und er hat Gottvertrauen: Er lässt sich helfen, er traut Jesus zu, ihm helfen zu können. Das sind gute Voraussetzungen. Wo es dagegen kein Vertrauen und keine Hoffnung mehr gibt und wo keine Menschen sind, die einen begleiten, da kann es nicht besser, sondern nur noch schlechter werden.
Ja, und dann ist da die Begegnung mit Jesus. Persönlich. Seine Freunde und Helfer bringen ihn zu Jesus hin, und dann bleiben sie zurück. Jesus nimmt ihn bei der Hand und führt ihn hinaus vor das Dorf.
Bis dahin, bis zu Jesus konnten seine Mitmenschen ihn bringen, ihm helfen. Dann sind sie mit ihren Möglichkeiten am Ende. Dann müssen sie ihn loslassen. – Ja, so ist das mit unserer Hilfe. Wir können nur bis zu einem gewissen Punkt etwas machen, und dann müssen wir loslassen. Dann kann es geschehen, dass die erstaunliche Gnade Gottes zum Zuge kommt. Oder auch nicht. Wir haben es nicht in der Hand.
Es ist für mich ein tröstliches Bild. Wir können viel tun. Wir können Menschen begleiten. Wir können mit Menschen reden und beten. Wir können ihnen zeigen und erklären, was wir sehen und glauben. Aber wir können ihnen nicht selber die Augen öffnen, können sie nicht heilen, können sie nicht zum Glauben bringen. Das muss ein anderer tun. Und darum bringen wir Menschen zu Jesus und überlassen sie ihm.
Am Ende entlässt Jesus den Blinden geheilt nach Hause. Er hat seinen Platz im Leben. Aber er wird ihn neu sehen und sein Leben von jetzt an völlig neu gestalten. Jesus schenkt ihm Licht und Klarheit, und er kann ein neues Leben beginnen: Amazing Grace – erstaunliche Gnade!
So ist mir diese Geschichte nahe.
Und nun zu dem, was mir fern und fremd ist: Das, wie Jesus hier handelt. Ich finde es toll, wenn Jesus durch Worte oder durch seine Gegenwart heilt: Dein Glaube hat dir geholfen! Ich finde es befremdlich, wenn Jesus obskure Methoden antiker Heilpraktiker anwendet: Speichel auf die Augen. Körperflüssigkeiten als Medizin. Wie eklig! Muss das sein?
Wenn ich drüber nachdenke, könnte ich es auch anders verstehen. Jesus wendet schließlich ein Mittel an, das damals durchaus zum Behandlungsstandard gehörte. Gerade daran haben sich manche gestört, dass Jesus hier nichts anderes tut, als andere Heiler seiner Zeit auch. Aber vielleicht ist es gerade das: Die Hilfe durch Jesus schließt die Hilfe durch die Möglichkeiten menschlicher Medizin nicht aus. Wir würden es heute nicht mit Speichel versuchen, aber mit Salben, Tropfen oder Laser. Und Jesus würde sagen: „Mach das mal und dann kommt mein spezieller Segen noch dazu. Ich berühre dich. Ich lege dir die Hand auf.“
Mein Hausarzt in Deutschland war – bzw. ist – ein gläubiger Christ. Manchmal, nachdem wir das Befinden und die Behandlung durchgesprochen hatten, haben wir zusammen gebetet. Und ich weiß, dass er das mit manchen anderen Patienten auch so gemacht hat. So soll es sein: die Möglichkeiten der Hilfe, die Gott uns Menschen mit unserer wissenschaftlichen Naturerkenntnis und medizinischen Erfahrung an die Hand gegeben hat, die sollen zum Zuge kommen. Und die persönliche, heilsame Berührung Jesu ebenso. Wenn es uns dann wieder gut geht – dann ist es Gottes erstaunliche Gnade – amazing grace – so oder so.
Noch etwas befremdet mich, oder verwundert mich zumindest: der zweistufige Heilungsprozess. Nach der Speicheltherapie und der Handauflegung fragt Jesus den Mann: Siehst du etwas? Und er antwortet mit diesem merkwürdigen Satz: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Und erst nach einer zweiten Handlauflegung kann er klar und deutlich sehen. Hätte Jesus nicht, wie sonst auch, in einem Zuge richtig heilen können? Wahrscheinlich hätte er. Aber habe ich, haben wir ihm das vorzuschreiben? – Lassen wir Jesus, lassen wir Gott wirklich die Freiheit, so zu handeln wie er es für richtig hält?
Was wäre, wenn es dabei geblieben wäre, dass der Blinde zwar sehen, aber eben doch nur unscharf sehen konnte? Immerhin: Bäume die sich bewegen, sind dann doch als Menschen zu identifizieren. Besser als gar nichts.
Jesus hält es diesmal für richtig, sich nicht mit wenig, mit dem halb vollen Glas, zufrieden zu geben. Er gibt vollkommene Heilung, klare Sicht. – Er muss das nicht. Aber er kann.
Noch ein markanter Satz steht da: Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, dass er alles scharf sehen konnte. – Vielleicht ein Satz, der die Geschichte bewusst auf eine andere Ebene hebt: Ein Mensch wird zurechtgebracht. Er bekommt wieder klare Sicht.
Und da denke ich an all die Blindheit, die nicht mit dem Verlust des Augenlichts einhergeht, sondern mit dem Verlust der Übersicht, des Durchblicks in einer verworrenen Welt und einer verworrenen Zeit. Es ist so vieles, das wir nicht klar sehen und nicht wirklich verstehen: Es sieht aus wie Bäume, aber wir sehen den Wald nicht. Es sieht aus wie Menschen, aber wir sehen nicht, was in ihnen vorgeht. Es sieht aus, wie etwas Gutes, aber es ist böse. Es sieht aus, wie etwas Böses, aber es dient zum Guten. Es sieht aus, wie ein Muster, aber es hat keinen Sinn.
Wie großartig, wenn jemand wieder klare Sicht gewinnt! Wenn einer zurechtgebracht wird und wieder klar sehen kann! Auch und gerade das ist erstaunliche Gnade, wie Jesus sie schenkt: Amazing Grace:
Ich war einst verloren, aber jetzt bin ich gefunden, war blind, aber jetzt sehe ich.
Wunderbar, wenn das geschieht!

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